Schneeflocken tanzten auf ihrem Weg von oben in immer neuen Mustern herab. Es blitzte und blinkte in einem fort und die tiefstehende Sonne schenkte den wogenden Massen immer wieder Regenbogen-gleiche Farbspiele. Virgile richtete den Blick hinauf und ein Lächeln überzog sein Gesicht.
Ohne sich dessen bewusst zu sein war er stehen geblieben und in das Schauspiel versunken. Die Menschen schwärmten in geschäftigem Treiben um ihn herum, teilten sich kurz vor ihm und fanden gleich darauf wieder zusammen. Nicht einer berührte ihn oder erhob gar die Stimme gegen ihn, dass er im Wege stünde. Mancher hätte vielleicht vermutet dies läge an seinem Wesen, seiner Aura. Und sie hätten recht damit gehabt, denn Virgile war ein Engel. Aber natürlich gab es niemanden der solches vermutete, denn wenn der Engel es nicht wollte, entzog er sich schlicht ihrer bewussten Wahrnehmung.
Dann zupfte etwas an Virgiles Gedanken und nur ein Augenblinzeln später stieß er einen Mann in die Seite. Dieser geriet dadurch ins Schwanken, touchierte seinerseits seine Nachbarin und so ging es weiter durch die Reihen derer, welche die Straße überqueren wollten. Derart mit sich selbst beschäftigt verpassten die Wartenden das grüne Aufleuchten der Ampel. Und so rutschte der Wagen zwar halb auf den Zebrastreifen, doch es kam niemand zu Schaden. Als Bonus ließ Virgile in dem Fahrer den Gedanken keimen, es sei vielleicht eine gute Idee, die Bereifung nun endlich der Witterung anzupassen.
»Nett.«
Virgile hörte den leisen Laut direkt und sehr nah hinter sich. Überrascht drehte er sich um, doch er erhaschte nur einen flüchtigen Eindruck von einem kräftigen Rot mit zwei grün-leuchtenden Punkten darin. Nun war es den Menschen nicht gegeben einen Engel in dieser Art zu überraschen. Wer oder was immer es also auch gewesen war, stand seinen Fähigkeiten in nichts nach. Denn obschon er mit seinen Sinnen alles in einem Radius von 30 Metern schneller absuchte als ein Mensch ein ›Hatschie‹ zu Wege brachte, fand er nichts.
In früheren Tagen wäre Virgile versucht gewesen, aufgrund des Eindrucks von Rot Vermutungen in eine gewisse Richtung anzustellen. Doch in diesen modernen Zeiten — er seufzte tief — war dies hinfällig. Es war noch gar nicht so lange her, vielleicht einhundert oder zweihundert Jahre, da hatte noch jeder geglaubt. Heute jedoch akzeptierten die meisten Menschen nur noch das was ihnen im Internet vorgebetet wurde. Und da suchte sich jeder auch nur das heraus, was ihm persönlich behagte. Es gab sogar einen Begriff dafür: Wahrnehmungs-Blase. Wahrheit war ein leerer Begriff geworden. Es hieß dann nur noch: ›Wessen Wahrheit?‹.
Seltsam genug, das die Gegenseite ebenso unglücklich und frustriert von der Entwicklung war wie er selbst. Zuerst hatte er vermutet die Konkurrenz hätte dieses Teufelszeug erfunden. Doch die Menschen selbst hatten es getan, hatten sich einen neuen Götzen erschaffen. An dieser Stelle besann sich Virgile und entschuldigte sich in Gedanken bei Jenem. Ein Engel tat einfach niemandem Unrecht, nicht einmal Jenen. Nein, kein Teufelszeug, Menschenzeug! Und das war viel, viel schlimmer!
Reglos und mit hängenden Schultern stand er da.
Dies war der Moment als ihn jemand anrempelte.
Virgile schwankte leicht und trat einen halben Schritt zur Seite. Erschrocken drehte er sich erneut um. Dieses Mal jedoch sah er den Auslöser klar und deutlich vor sich. Obwohl, genau genommen stimmte das nicht, denn das rote Haar hatte eindeutig die Balance verloren. Es hing nun an seiner Brust und er vernahm unverständliches Genuschel aus einem Mund, der an seinem Hemd klebte. Links und rechts hingen an beiden Armen zahlreiche Tüten und Taschen, was verhinderte, das die Person ihre Hände zu Hilfe nahm.
Im nächsten Augenblick kam all das ins Rutschen. Virgile reagierte fast zu spät, doch es gelang ihm gerade noch, seine Hände unter die Achseln seines Gegenübers zu schieben. Danach war es ein Leichtes für ihn die Frau wieder aufzurichten.
Grüne Augen blitzten ihm entgegen.
»Entschuldigung.«
Virgile schaute in ein offenes Gesicht. Mit den geraden Seiten und der kräftigen Kinnpartie wirkte es auf ihn eine seltsame Faszination. Ohne weiter zu reagieren oder etwas zu sagen hielt er die Frau weiter fest.
»Hallo.«
Virgile schaute weiter in das Gesicht so nahe vor ihm, welches nun von einem breiten Lächeln beherrscht wurde.
»Und Danke.«
Virgile starrte weiter.
»Sie sind wirklich stark!«
Virgile blinzelte einmal, zweimal.
»Sehr stark, offensichtlich!«
Virgiles Mund öffnete sich leicht, aber es kam kein Ton heraus.
»Äh, ja?«
Weitere Blinzler. Die Frau senkte den Blick und schaute interessiert nach unten.
»Wow! Mindestens 20 Zentimeter!«
Virgiles Gesicht fühlte sich plötzlich heiß an. Gerade schien es ihm so, das sich sein Verstand verabschiedet hatte. Dennoch ließ er seinen Blick dem des Rotschopfs folgen. »Oh.«, kommentierte er leise. Es dauerte einige Sekunden, dann hoben sie beide gleichzeitig die Köpfe und schauten sich erneut an.
»So siehts aus.«, kommentierte sie und lächelte ihn an wie ein Sonnenaufgang. »Auch wenn das recht schön ist — auf Dauer, fürchte ich, wird es doch unbequem werden.«
Virgile nickte verstehend. Langsam, wirklich sehr langsam, senkte er seine Arme, bis die Frau endlich wieder auf ihren Füßen stand. Ihre Blicke hielten dabei einander fest als gäbe es sonst auf der Welt nichts anzuschauen.
»Es ist schade, aber ich muss jetzt leider weiter.«
Endlich löste Virgile seine Hände von ihrer Taille.
»Das war sehr schön mit Ihnen.«
Ein Impuls ließ Virgile seinen Kopf hinabsenken. Ein weiterer Sonnenaufgang empfing ihn. Dann spürte er die sachte Berührung ihrer Lippen auf seiner Wange und schloss die Augen.
Als er sie endlich wieder öffnete, war sie fort, in der Menge der Leiber verschwunden.
»Ja«, sagte Virgile, »wirklich sehr schön!«