Tiki-Toki-Land

eine Kurzgeschichte von
Sebastian Domke
© 2023

Es hatte Jahrhunderte gedauert, bis die Menschen realisierten, dass wir Bäume lebten. Und es würde weitere Jahrhunderte dauern, bis sie begriffen, dass unsere Seelen niemals starben. Borkenkäfer und Motorsägen zerstörten seit je her Stämme, Äste und Zweige, rissen Wurzeln gnadenlos aus dem Boden. Die Herzen von uns stolzen Riesen jedoch waren anders als bei Menschen an keine feste Form gebunden und ewiglich mit dem Holz vereint. Unsere Herzen ächzten in den Stühlen, ließen Fensterläden klappern und Dielenbretter knacken.

* * *

Ein Knacken wie dieses, gefolgt von menschlichem gedankenlosen Geplapper. Wie lange war ich weg gewesen? Es könnten 77 oder 78 Jahre vergangen sein. Doch wer so alt war wie ich, wer schon so viele Menschen kommen und gehen gesehen hatte, für den spielte Zeit keine Rolle.

»Hast du das gehört?«

»Jonas, das is 'ne Bruchbude. Was hast du erwartet? Dass deine Fußsohlen übers Linoleum klackern wie beim Einmarsch in das Hotel Kempinski?« Die Frau johlte und stieß ihm in die Seite.

»Lisa, das ist nicht irgend ein Haus. Hier hat einst Astrid Lindgren gewohnt. Hier soll es spuken.« Jonas zog einen rechteckigen Kasten aus der Hosentasche. »Ich nehm' alles auf. Das hier wird viral gehen, da is das Blair Witch Projekt nix gegen.«

Auch Lisa zog ein flaches Teil aus ihrer Handtasche und tippte darauf rum.

Ich seufzte und ließ eisigen Wind durch die Fenster- und Türritzen heulen.

Was war aus den Menschen geworden? Jetzt liefen sie umher und starrten in diese flachen Dinger. Körperlich waren sie hier, aber es war, als seien ihre Seelen ihren Leibern schon lange entrückt.

Nun stolperte ein schwerer Mann herein. Auf das rechteckige Teil in seiner Hand starrend, hatte er ein vorstehendes Brett übersehen. Er stürzte zu Boden.

Lisa drehte sich um und schrie, ohne den Blick von ihrem gläsernen Ding abzuwenden.

»Mann Olli, hast du mich erschreckt. Habt ihr schon von dem Haus ein Real aufgenommen?«

Olli stand auf und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen.

Was nun geschah, war seltsam. Lisa, Olli und Jonas hielten die komischen Dinger vor ihre Körper, umarmten sich, schrien panisch und lachten.

»Das geht in unserem Tiki-Tocki-Land durch die Decke!«, rief Jonas, wild auf das Ding in seiner Hand tippend.

* * *

Die Geschöpfe ahnten nicht, wie viele Menschen ich in den letzten zweihundert Jahren getötet hatte, sie ahnten nicht, dass sie mir ausgeliefert waren, sie ahnten nicht, dass sie mich niemals aufhalten konnten. Ich hatte die Macht. Doch warum sollte ich mir das Holz schmutzig machen? Ihre entrückten Blicke sprachen Bände. Sie waren schon lange tot.

Ich gähnte, ließ den Wind an den Wänden rütteln und den Boden beben. Ein kleiner Abschiedsgruß. Tuschelnd über die Dinger gebeugt, bekamen sie es nicht einmal mit.

Eine Frage beschäftigte mich bis in meine Träume hinein. Wie hatten die Menschen nur das Taku-Tuka-Land in ein Tiki-Toki-Land verderben können?

Ende